Während vor der Ratifizierung der Istanbul-Konvention das materielle Recht (die Gesetzgebung) in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Konvention reformiert wurde, ist davon auszugehen, dass sich diese neugeschaffenen Regelungen erst nach und nach in der Rechtsprechung niederschlagen. Bis dato gibt es nur äußerst wenige Urteile, die sich explizit auf die Istanbul-Konvention beziehen. Vor diesem Hintergrund dokumentieren wir solche Urteile.
Der Bundesgerichtshof hat sich im August 2022 und im Januar 2023 mit Urteilen in Bezug auf in der Prostitution verübte Gewalt befasst, wie der KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. berichtet. Im nachfolgenden werden die beiden Bewertungen des BGH dargestellt.
Fall 1: BGH, Beschluss vom 9. August 2022 – 6 StR 279/22 –, juris (vorgehend: LG Braunschweig, 6. April 2022, 4 KLs 5/22)
Der Angeklagte wurde vom Landgericht Braunschweig wurde wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Landgericht hatte sich auf BGH-Urteile aus den Jahren 1973 bis 2001 berufen um die Tatsache, dass die Betroffene in der Prostitution tätig ist. als strafmildernd zu berücksichtigen. Argumentiert wurde, die Nebenklägerin habe sich „vor der Tat zum geschützten Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten bereiterklärt, was regelmäßig geeignet sei, die Tat in einem milderen Licht
erscheinen zu lassen“.
Der Bundesgerichtshof verweist demgegenüber auf die Neufassung des § 177 StGB durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 4. November 2016. „Der Tatbestand erfasst nach geltender Rechtslage die Vornahme sexueller Handlungen, mit
denen sich der Täter – auch ohne Nötigungsmittel – über den entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt und dadurch das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung verletzt (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 22).“ Außerdem: „Nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen ist es jedenfalls nunmehr unerheblich, aus welchen Gründen das Opfer die sexuelle Handlung ablehnt (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 23). Der damit – entsprechend den rechtlichen Maßgaben aus Art. 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention), umgesetzt in deutsches Recht durch Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarates vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (BGBl. 2017 II, S. 1026 ff.; BT-Drucks. 18/12037, S. 76 f.) – unterschiedslos erstrebte Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ist mit einer regelhaften Differenzierung zwischen einer Prostituierten und einer „unbescholtenen Frau“ (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 1973 – 4 StR 135/73) unvereinbar.
Fall 2: BGH, Urteil vom 5. Januar 2023 – 5 StR 386/22 (vorgehend: LG Berlin, 09. Mai 2022 – 542 KLs 20/21)
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Angeklagte hatte die Betroffene als Escort über Nacht in seine Wohnung bestellt. Der Angeklagte schloss die Wohnungstür hinter hier ab und vergewaltigte sie unter Vorhaltung eines Messers mit einer 15 cm langen Klinge. Er erklärte ihr, dass sie alles machen werde, was er ihr sage und bedrohte sie unter Androhung von Konsequenzen wenn nicht. Nach erzwungenem Oralverkehr gelang es dem Opfer einen Notruf abzusetzen. Sie wurde schließlich von der Polizei befreit.
Das Landgericht ging von einem minder schweren Fall aus, da seiner Auffassung nach strafmildernd berücksichtigt werden müsse, dass „der ungeschützte Oralverkehr Teil der ursprünglichen – wenn auch nicht eingehaltenen – Vereinbarung“ gewesen sei, so dass „die Nebenklägerin zumindest mit keiner völlig unvorhergesehenen Sexualpraktik konfrontiert“ worden sei.
Der BGH verwarf die Revision der Staatsanwaltschaft, da das Landgericht sich in seiner Bewertung der Auswirkung der Tat auf die Frau nicht allein auf die vorherige Vereinbarung sexueller Handlungen der beiden berufen habe, sondern auf rechtsfehlerfrei festgestellte Umstände. Denn aus den Urteilsgründen ergebe sich, dass das LG seine Annahmen u.a. auf Äußerungen der Frau stützte, nach denen diese den erzwungenen Oralverkehr weniger schwerwiegend empfunden habe, als den vereinbarten Vaginalverkehr. Auch habe das Landgericht die Wirkung der Drohung mit dem Messer auf die Frau strafschärfend berücksichtigt. Den Urteilsgründen sei nicht zu entnehmen, dass das Landgericht aufgrund des Umstandes, dass die Nebenklägerin in der Prostitution tätig war, deren Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als weniger schutzwürdig erachtet habe. Für die Erfüllung des § 177 StGB in seiner neuen Fassung sei unerheblich, warum ein Opfer eine sexuelle Handlung ablehne. Vielmehr solle die Freiheit geschützt werden, auch bei einer zuvor erteilten Zustimmung, jederzeit den Willen zu ändern. Das Landgericht habe auch nicht aus der Vereinbarung entgeltlicher sexueller Dienstleistung darauf geschlossenen, dass deren zwangsweise Durchführung für die Nebenklägerin weniger belastend gewesen sei. Ein solcher Schematismus verbiete sich und es sei vielmehr immer auf den Einzelfall abzustellen, inwieweit ein Einvernehmen vor der Tat sich auf das subjektive Erleben der Tat ausgewirkt habe. Die Strafzumessung habe stets bezogen auf den Einzelfall zu erfolgen.
Dies entspräche auch den Vorgaben der Istanbul-Konvention, die die Mitgliedstaaten zur Verfolgung sexueller Gewalt verpflichte und Tatfolgen nicht zu generalisieren sondern individuell zu bestimmen. Der BGH macht unter Bezug auf den Erläuterungsbericht zur Konvention umfassende Ausführungen dazu, dass der Verpflichtung zur Sanktion sexueller Gewalt auch die Forderung an die Mitgliedstaaten des Europarats zugrunde läge, sich hierbei nicht von Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität´ beeinflussen zu lassen. So sei auch die gesamte Bandbreite von Verhaltensreaktionen auf sexuelle Gewalt (…), die das Opfer zeigen kann, zu berücksichtigen und eine Entscheidung nicht auf Vermutungen zum typischen Verhalten in einer solchen Situation zu begründen´.
Das Landgericht argumentierte die Nebenklägerin habe den allein erzwungenen Oralverkehr als bei weitem weniger gravierend empfunden als einen – an sich ebenfalls vereinbarten – Vaginalverkehr. Dies machte das Landgericht etwa daran fest, dass sie den Oralverkehr sogar durch Unterbrechungen und Gespräche in die Länge zog, um so befürchtete weitergehende sexuelle Handlungen hinauszuzögern. Zudem suchte sie nach Fluchtmöglichkeiten aus Angst, „vergewaltigt“ zu werden, was nach ihrem Verständnis erst mit einem erzwungenen Vaginalverkehr geschehen wäre, nicht aber mit einem Oralverkehr. Schließlich habe sie den durchgeführten Oralverkehr in ihrer ersten polizeilichen Befragung am Tatort überhaupt nicht erwähnt und die Frage verneint, ob es zu Geschlechtsverkehr gekommen sei, weshalb das Landgericht auf eine weniger schwerwiegende Belastung durch diese Tathandlung geschlossen hat. Die Nebenklägerin habe „das Geschehen verhältnismäßig gut verarbeitet und keine nachhaltigen Folgen davongetragen“.
Die maßgeblichen Tatfolgen nicht generalisierend, sondern anhand des vom individuellen Opfer empfundenen Leids zu bestimmen, entspräche zugleich den Vorgaben der Istanbul-Konvention. So liegt der dort enthaltenen Verpflichtung zur Bestrafung sexueller Gewalt auch die Forderung an die Mitgliedstaaten des Europarats zugrunde, dass die in entsprechenden Fällen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen nicht von Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität beeinflusst werden dürfen. Die gesamte Bandbreite von Verhaltensreaktionen auf sexuelle Gewalt und auf eine Vergewaltigung, die das Opfer zeigen kann, ist zu berücksichtigen. Eine Entscheidung dürfe nicht auf Vermutungen zum typischen Verhalten in einer solchen Situation begründet werden.
Aus dem Urteil des BGH geht nicht hervor, woran festgemacht wird, das Opfer habe keine nachhaltigen Folgen davongetragen. Es wäre anzunehmen, dass ein Darüber hinaus wird sich zeigen, ob die Argumentation in Bezug auf die „Geschlechter-Stereotypen und Mythen zur männlichen bzw. weiblichen Sexualität“ der Intention des Europarates entspricht, geht es doch hierbei viel mehr um Vorstellungen der Gesellschaft in Bezug darauf, wie sich ein Opfer nach der Tat verhält oder nach außen gibt und auf in der Gesellschaft, und – gemäß der GREVIO-Evaluation insbesondere der Justiz – verbreitete Gewaltmythen.