Gewaltmythen

Das öffentliche Bewusstsein ist im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt mit vielen Vorurteilen und Fehleinschätzungen – sog. Gewaltmythen – durchdrungen. Betroffenen Frauen wird häufig – teils explizit und teils subtil – eine Mitschuld für die Gewalt, die ihnen widerfahren ist, gegeben. Gewalterfahrungen werden tabuisiert und bagatellisiert. Vor diesem Hintergrund ist das Ansprechen oder Anzeigen der Gewalt für viele Frauen schwer oder unmöglich, denn Frauen geben sich selbst die Schuld an ihrer Situation. Es wird die Illusion generiert, die Gefahr Oper von Gewalt zu werden, durch das eigene Verhalten kontrollieren zu können.

Wie entstehen Gewaltmythen und was bewirken sie?

Mythen zu Gewalt gegen Frauen beruhen meist auf falschen Erklärungszusammenhängen. Sie beinhalten in der Regel eine Verschiebung der Verantwortlichkeit und suggerieren Opfer von Gewalt hätten Einflussmöglichkeiten, die nicht vorhanden sind. Sie lenken ab von der tatsächlichen Verantwortung, sie tragen zur Isolierung der Opfer bei und bedeuten damit eine zusätzliche Gefährdung für die Betroffenen.

In Bezug auf sexuelle Gewalt lässt sich feststellen, dass gesellschaftlich oft der Wunsch entsteht, das Thema zu verleugnen und zum anderen, sich davon zu distanzieren. Das gelingt oft mit bestimmten Annahmen, Vorstellungen und Bildern zu sexueller Gewalt.

Für Betroffene wirkt die Art und Weise, wie über das Thema öffentlich diskutiert wird keine Erleichterung. Sie beobachten öffentliche Diskussionen meist sehr genau und reagieren sensibel darauf. Viele sexuelle Übergriffe bleiben dadurch im Verborgenen. Nur das breite Benennen der Gewalt jedoch macht sie sichtbar, enttabuisiert sie und macht sie bekämpfbar.

Welche Gewaltmythen existieren?

„Gewalt in der Familie ist Privatsache, der Staat soll sich hier nicht einmischen“

Gewalt darf nicht als Privatangelegenheit angesehen werden. Das schützt die Täter.

Bei der Ausübung von Gewalt handelt es sich um eine strafbare Handlung. Der überwiegende Teil der Gewalttaten sind so genannte Offizialdelikte, was bedeutet, dass sie vom Staat angeklagt und verfolgt werden.

„Gewalt kommt nur oder überwiegend in niedrigen sozialen Schichten vor“

Geschlechtsspezifische Gewalt betrifft Frauen aus allen sozialen Schichten. Sie betrifft Frauen aller Bildungsgrade, jeden Alters und jeden Einkommens.

„Sie hat ihn provoziert“

Die vermeintliche „Provokation“ besteht zumeist darin, dass Frauen nicht die Interessen des Partners bedient haben. Täter nehmen oft patriarchale, rollenstereotype Verhaltensweisen für sich in Anspruch.

Berichte von gewaltbetroffenen Frauen zeigen, dass sie mitnichten das Verhalten des Täters beeinflussen können und sie die Gewalt unabhängig davon erleiden, ob sie es dem Partner recht gemacht haben oder nicht.

Außerdem: Es gibt keine Entschuldigung für Gewalt. Eine solche Einstellung gibt dem Opfer die Schult und lenkt von der Verantwortung des Täters ab.

„Sie will es so, sonst würde sie ihn verlassen“

Frauen, die Gewalt erleben, versuchen vieles, um die Situation zu verändern. Erst, wenn alle Versuche fehlschlagen, suchen sie Hilfe von außen.

Einige Frauen werden von ihren Partnern kontrolliert und haben Angst, sich jemandem anzuvertrauen.

Viele Betroffene haben weder Bekannte oder Verwandte, an die sie sich wenden können. Viele Frauen haben kein Geld und wissen nicht, wer sie aufnehmen können.

Gerade wenn eine Frau sich trennen will, muss sie zudem mit einer Zunahme der Gewalt rechnen. Frauen werden oft noch jahrelang von ihrem Ex-Partner verfolgt.

„Täter haben in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren“

Es kommt vor, dass Gewalt ausübende Männer in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt waren. Gewalterfahrungen stellen einen Risikofaktor für Gewaltanwendung dar. Kindheitserlebnisse wirken sich allerdings unterschiedlich aus. So haben viele Frauen in der Kindheit ebenfalls Gewalt erfahren.

Der Gewalt-Kreislauf lässt sich durchbrechen und die Gewaltanwendung ist eine Entscheidung.

„Der Alkohol/die Drogen/die psychischen Probleme sind die Ursache von Gewaltanwendung“

Es gibt keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Substanzgebrauch und der Anwendung von Gewalt, wenngleich dieser bei gewalttätigen Personen die Hemmschwelle herabsetzen können. Auch psychische Krankheiten können zwar aggressive Verhaltensweisen verursachen, das Muster des gewalttätigen Verhaltens ist jedoch erlernt.

Hinter den meisten Gewaltausbrüchen stehen Absicht und strategische Überlegungen. Es handelt sich nicht um reine Affekthandlungen, wie oft von Tätern zur eigenen Entschuldigung angeführt. Die Gewalt wird nicht wahllos ausgeübt, zum Beispiel nicht gegen Kollegen oder Vorgesetzte, sondern gegenüber der Partnerin im privaten Bereich.

„Er war im Stress und ihm ist die Hand ausgerutscht“

Gewalt wird oft verharmlost und durch äußere Anlässe entschuldigt.

Die gewalttätigen Handlungen sind in der Regel jedoch keine einmaligen Vorfälle, sondern Bestandteile eines komplexen Misshandlungssystems.

„Jungs/Männer sind nun mal so“

Männer und Frauen sind unterschiedlich sozialisiert, um unterschiedliche Rollen auszufüllen. Wir sind dazu erzogen worden, diesen Idealen zu entsprechen.

Männer werden in dem Glauben erzogen, dass Dominanz, Macht und Gewalt Qualitäten sind, nach denen sie streben sollten. Im Zusammenhang mit dem Glauben daran, dass Frauen weniger wert sind, ist das eine gefährliche Kombination.

Es ist wichtig, diese Denkweisen zu ändern.

„Auch Frauen sind ihrem Partner gegenüber gewalttätig“

Statistisch sind weltweit zwischen 90 und 95% der Opfer häuslicher Gewalt Frauen, im gleichen Maße sind die Täter männlich.

Körperverletzungen, die von Frauen an ihren Partnern begangen werden, stellen häufig Notwehrhandlungen dar, weisen im Vergleich zu männlicher Gewalt verschiedene Charakteristika auf und sind meist nicht durch Systematik und schädigende Absicht gekennzeichnet

„Kinder brauchen ihren Vater, auch wenn er gewalttätig ist“

Die von Kindern miterlebte Gewalt zwischen den Elternteilen stellt eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls dar.

Kinder mit einem ausgeglichenen alleinerziehenden Elternteil in einer sicheren Umgebung können geborgen und körperlich wie psychisch gesund aufwachsen.

„Nur junge und attraktive Frauen und solche, die sich aufreizend kleiden oder verhalten, werden vergewaltigt“

Jedes Mädchen und jede Frau kann, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Aussehen, ihrer Kleidung, Nationalität oder Religion, Opfer einer Vergewaltigung werden. Es gib kein Verhalten von Mädchen und Frauen, das eine Vergewaltigung ausschließen kann.

„Vergewaltigungen finden meist nachts in einsamen Parks oder dunkeln Straßen überfallartig durch Fremdtäter statt“

Zwei Drittel aller Vergewaltigungen finden im sozialen Umfeld der betroffenen Mädchen und Frauen statt. Mädchen sind also dort am stärksten bedroht, wo sie sich am sichersten fühlen oder fühlen sollten – in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder in der eigenen Wohnung.

Die überwiegende Anzahl der Täter ist den Opfern zuvor (zumindest flüchtig) bekannt. Es sind Freunde, Bekannte, Väter, Brüder, Ehemänner, Partner.

Vergewaltigungen finden zu jeder Tages- und Nachtzeit statt und sind meist geplant.

„Sie hätte sich doch wehren können – verbal oder auch körperlich“

Eine Vergewaltigung wird als lebensgefährliche Bedrohung mit akuter Todesangst erlebt. In vielen Fällen führt das zu einem Schockzustand, in dem eine körperliche Gegenwehr unmöglich ist. Viele Opfer sind außerdem so damit beschäftigt, die Situation zu überleben und ein Wehren wird oft mit einem zusätzlichen Risiko, bzw. der Angst, dass „noch mehr“ passieren könnte, verbunden.

„Sie trägt eine Mitschuld“

Jeder Mensch hat ein Recht darauf, Nein zu sagen. Egal in welcher Situation oder zu welchem Zeitpunkt. Auch wenn sie vorher den Täter geküsst hat oder eine sexuelle Beziehung zu ihm hat oder hatte. Bei sexueller Gewalt wird dieses Recht übergangen. Die Verantwortung liegt immer ganz allein beim Täter.

„Vergewaltiger sind triebgestört“

Vergewaltiger weisen zu über 90% keine psychopathologischen Auffälligkeiten auf. Es gibt keine biologischen, psychischen oder physischen Ursachen, die dazu führen könnten, dass ein Mann sein Sexualverhalten nicht kontrollieren kann. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung, Männer seien „triebgesteuert“.

Sexualität wird oft ganz bewusst als Mittel eingesetzt um Frauen und Mädchen zu erniedrigen und Macht auszuüben.

„Eine Frau, die vergewaltigt wurde ist die Tat anzusehen und sie verhält sich auf eine bestimmte Weise“

Das Verhalten einer Frau nach einer Vergewaltigung ist individuell unterschiedlich. Manche sind verzweifelt und aufgelöst, andere wirken ruhig und gelassen oder aggressiv. Es gibt kein typisches Opferverhalten.

Die wenigsten Frauen reden über erfahrene sexuelle Gewalt. Scham, Angst und Angst vor Schuldzuweisung hindern sie daran, sich nahestehenden oder fremden Personen anzuvertrauen oder unmittelbar nach der Tat eine Anzeige zu erstatten.

„Frauen zeigen Männer an, um diesen zu schaden oder um sich an diesen zu rächen“

Der Anteil an Falschbeschuldigungen liegt, je nach Studie, zwischen zwei und acht Prozent.

Viel häufiger verzichten Frauen aus Angst und Scham auf eine Anzeige. Je näher sie mit dem Täter bekannt oder verwandt sind, desto seltener zeigen Frauen eine Vergewaltigung an.

Für Männer ist die Wahrscheinlichkeit, selbst vergewaltigt zu werden statistisch höher als fälschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt zu werden.

„Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist eine religiöse Pflicht“

Keine Religion schreibt diese grausame Praxis vor. Female Genital Mutilation (FGM) wird innerhalb verschiedener Religionen und Kulturen praktiziert.

„FGM wird nur bei erwachsenen Frauen durchgeführt“

Statistiken zeigen, das die Mehrheit der Mädchen, die von FGM betroffen sind, jünger als fünf Jahre sind. Mädchen unter 14 stellen 44 der 200 Millionen betroffenen weiblichen Personen.

„Eine Frau wehrt sich, wenn sie vergewaltigt wird“

Kommen wir in eine sehr bedrohliche Situation, aktiviert unser Körper eine Adrenalinausschüttung, um überlebenswichtige Kräfte bereitzustellen. Je nach Situation und Handlungsoptionen beginnt er automatisch zu kämpfen oder zu fliehen. Ist beides nicht möglich, reagiert der Hirnstoffwechsel mit Erstarren: Wir werden vor Schreck wie gelähmt und sprachlos. Unsere Selbstwahrnehmung ist dann gestört und wir fühlen uns wie außerhalb unseres Körpers (Dissoziation). Wir empfinden dadurch weniger Schmerz, fühlen uns entfremdet oder erleiden sogar eine Amnesie (Gedächntnisverlust)

„Was zwei Erwachsene im Bett tun geht den Staat nichts an“

Aber natürlich tut es das. Deshalb gibt es Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen, und deshalb ist Vergewaltigung – inklusive Vergewaltigung in der Ehe – verboten.

Männliche sexuelle Gewalt gegen Frauen umgibt uns überall, in ihren zahlreichen verschiedenen Formen, aber es ist am häufigsten zu Hause – ganz oft im eigenen Schlafzimmer – in dem Mädchen und Frauen sexuelle Gewalt durch Männer erleben.

„Wenn Prostitution legal ist, ist es leichter Menschenhändler dingfest zu machen“

Es ist genau anders rum. In Ländern, in denen Prostitution legalisiert ist, ist die Prostitutionsindustrie gewachsen – und große Teile davon sind illegal. Ein Grund hierfür ist, dass Zuhälter mehr von der illegalen Prostitution profitieren.

Und natürlich ist es einfacher, Menschenhandel in einem Land zu verstecken, in dem Prostitution an sich legal ist. Es ist viel schwieriger, teurer und riskanter für Menschenhändler in den Ländern zu operieren, in denen die Nachfrage kriminalisiert wird.

„Wenn es keine Prostitution gäbe, dann gäbe es mehr Vergewaltigungen“

Sowohl Prostitution, als auch Vergewaltigung beruhen auf einer sexuellen geschlechtsspezifischen Macht. Das bedeutet, männliche Macht und die Unterordnung der Frau werden zu etwas gemacht, was “sexy” ist, etwas wovon man(n) erregt wird.

Studien zeigen, dass Männer die Prostitution nutzen, auch außerhalb der Prostitution sexuell übergriffiger sind. Jeder Sex, der bezahlt werden muss, findet darüber hinaus nicht freiwillig statt, sondern nur der Entschädigung willen. Deshalb ist Prostitution keine einvernehmliche Sexualität.

Ein Mann beutet eine Frau aus, um seine Sexualität zu befriedigen – ihre Sexualität und ihr Wille werden untergeordnet. Es geht um die Haltung des Freiers – Männer haben das Recht, Frauenkörper zu kaufen.
Selbst wenn es anders wäre, wäre es keine Lösung eine Gruppe von Frauen abzustellen, damit andere Frauen unversehrt bleiben.

„Menschen mit Beeinträchtigung und einsame Menschen sind auf Prostitution angewiesen“

Eine solche Argumentation ist geringschätzig gegenüber beeinträchtigten Männern (um die geht es in der Regel). Auch Männer mit Beeinträchtigung wollen in aller Regel Sex, der auf Gegenseitigkeit beruht.
Die meisten, die Prostitution nachfragen, sind keine Männer mit Beeinträchtigung. Deshalb ist es unredlich diese als Alibi für Handlungen zu benutzen, die von Männern ohne Beeinträchtigung begangen werden.

Menschen, die aus diesen Gründen in ihrer Sexualität beeinträchtigt sind, sollen selbstverständlich das Recht auf sexuelle Hilfsmittel haben, die ihnen dabei helfen können, sich selbst zu befriedigen oder mit ihrer Partnerin / ihrem Partner Sex zu haben.

Es gibt zahlreiche Menschen mit Behinderung, die sich eine Instrumentalisierung pro Prostitution verbitten.

Übrigens: In der Prostitution ist es nicht unüblich, Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigung sexuell auszubeuten.

Der durchschnittliche Freier ist männlich und verheiratet oder in einer Partnerschaft. Viele haben Kinder. Studien zufolge haben viele auch überdurchschnittlich viele “normale” (unbezahlte) Sexualkontakte. Also sind die “armen, einsamen” Männer hier in der Minderheit.

Tatsächlich geht es bei Prostitution meistens eher darum, dass sich ältere Männer Zugang zu jüngeren Frauen erkaufen. Oder dass Männer von Pornographie inspirierte Sexualpraktiken auf diese Weise ausleben möchten, weil die Partnerin darauf keine Lust hat.

Nach oben scrollen